Ken Matsubara appliziert Film auf ausgesuchte Objekte wie ein namenloses Buch oder eine Holzwaage, ein industriell hergestelltes Wasserglas oder eine serienmäßig hergestellte Klangschale, ein nicht-funktionsfähiges Handy oder ein veraltetes Fernsehgerät. Sie alle sind kleine bewegliche Gegenstände des täglichen Lebens und finden sich in vielen, unterschiedlichen Kontexten wieder. „Klein- oder Miniaturobjekte nehmen in den Herzen vieler Japaner_innen einen besonderen Platz ein. Sie haben das Gefühl, dass sie sich mit einem kleinen Universum oder ihrer perfekten Gesellschaft in ihnen verbinden können. Wie in den fein gearbeiteten Utensilien und Tassen für die japanische Teezeremonie, in denen es ein großes Universum zu finden gibt … „, erklärt Matsubara seine Wahl der Formate. Das Bündel von Assoziationen, das ein Objekt begleitet, ist seine Leinwand. „Mit dem Gedanken ein neues Miniaturuniversum zu erschaffen, konnten die Japaner_innen auch den kleinsten Fernseher der Welt produzieren.“ Als Industrieland war Japan immer an vorderster Front des technologischen Fortschritts und japanische Künstler_innen waren von den wissenschaftlichen, technischen und medialen inspiriert.
Das Aufkommen der Fotografie in Japan in der Mitte des 19. Jahrhunderts fiel mit der Erfindung der Daguerreotypie in Frankreich zusammen. Vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart haben japanische Fotograf_innen über die Funktion und die Rolle ihres Mediums debattiert, und je nach Position ihre gesellschaftliche Rolle oder ihre Ausdrucksmöglichkeiten betont. Wie kaum ein anderes künstlerisches Medium hat die Fotografie eine wesentliche Rolle bei der Erforschung, Repräsentation und Konstruktion von Bildern der japanischen Identität gespielt. „Japanische Schönheit basiert auf allem, was vergänglich ist, die Zeit verschwindet, sie bleibt nicht stehen. So zum Beispiel „Hojoki“, das älteste Buch Japans von Kamo no Chomei, der seine allererste Seite schrieb, dass der fließende Fluss nie aufhört und das Wasser doch nie gleich bleibt. Schaum schwimmt über die Becken, streut sich, formt sich neu, bleibt nie lange stehen. So ist es mit dem Menschen und all seinen Wohnstätten hier auf Erden.“ [Mara Sartore: Repetition: Ein Interview mit Ken Matsubara]
Ken Matsubaras Serie „Repetition“ [2014] ist das Ergebnis der Verwendung verschiedener alter Schnappschüsse, die zufällig gefunden wurden, und der Aufnahme von Bildern am selben Ort im Vergleich zu dem Ort, an dem die Schnappschüsse tatsächlich aufgenommen wurden. Die gealterten Fotografien werden als Drucke in Buchform gezeigt, und die Aufnahmen der neu besuchten Orte werden auf leere Seiten projiziert. Die Gegenüberstellung führt zu einem Stillleben, das zu einer Vermittlung von Gegenwart und Vergangenheit, Gegenwart und Abwesenheit, Leben und Tod führt. Das Verständnis von Geschichte als Entwicklungsprozess entlang des Zeitflusses ist ein immer wiederkehrendes Thema künstlerischer fotografischer Positionen. Der Künstler und Architekt Hiroshi Sugimoto widmet sein Werk unter anderem der Vergänglichkeit des Lebens und hat seine Fotografien als Ausdruck der exponierten Zeit beschrieben. Zeitfluss und das Vergehen der Gegenwart ist der Schlüssel zum Verständnis von Matsubaras konzeptionellem Ansatz. „Wir schwanken zwischen Vergangenheit und Zukunft in einem Zustand der Wiederholung und suchen unaufhörlich nach ihren Mitteln ohne Ende.“ Seine Werke wurzeln in persönlichen Beobachtungen oder Erinnerungen. Für die Arbeit „Tide“ [2011] spricht er explizit von einer prägenden Erfahrung: „Diese Arbeit entspringt meiner Erinnerung als ich im Alter von 3 Jahren zum ersten Mal ins Meer ging. Meine Mutter lachte und rief mich ins Wasser. Als ich vorsichtig in die Wellen eintauchte, spürte ich die große Kraft unter meinen Füßen, die mich in das Wasser zog. Um nicht in den Tod getrieben zu werden, habe ich meine Beine weit auseinander gespannt, aber nach und nach begann ich zu sinken. Ich versuchte, die seltsame Angst vor meinen Füßen zu ertragen, und schluckte viel Meerwasser. Als ich weint, kam schließlich meine Mutter, lachend, um mich zu schnappen und mich in ihren Armen zu halten.“ Die aus dieser Erfahrung resultierende Videoarbeit ist ein Kaleidoskop menschlicher Beine in einem bewegten Meereswasser, die vielfach gespiegelt und wiederholt wird. Es wird auf einen dunklen Holzklotz projiziert. Ein anderes Beispiel ist die Arbeit „Letters“ [2011], es bezieht er sich auf den Moment, in dem er und seine Frau beschlossen, Briefe, die sie von Familie und Freund_innen erhalten und die sie seit fast vierzig Jahren aufbewahrt hatten, wegzuwerfen. Das Video zeigt einen leeren Raum, in dem Papierblätter zu Boden schweben. Projiziert auf ein nicht-funktionstüchtiges Mobiltelefon erzeugt es die Nachdenklichkeit über die kollektive Erfahrung wie im Zeitalter der Digitalisierung der geschriebene Brief nicht mehr existiert.
Im Zusammenspiel der analogen Objekte mit den digitalen Filmen schafft er subtile und faszinierende Mischrealitäten wie die Bewegung des Wassers, was nur in der Projektion vorhanden ist, aber nicht in der Projektion _ wie in der „Moon Bowl“ Serie. Sein Ziel ist es, eine Interdependenz oder Dynamik einzufangen, sie sind die Schlüssel zu seinen künstlerischen Konzepten. Er erforscht Visualität als das Zusammenspiel von Bekanntem und Unbekanntem, von visueller und nicht-visueller Sphäre mit einem einzigartigen Sinn für Spiritualität. „Ich erkannte, dass die Basis meiner Ideen „Mono no aware“ ist, was die Traurigkeit der vergehenden Zeit bedeutet. Es ist, wie wenn man die Kirschblüten fallen sieht, fühlt man sich traurig. … Die japanische Schönheit kann man mit den Kirschblüten oder sogar mit den Samurai-Kriegern beschreiben, die sterben werden, wenn sie die Kirschblüten sehen, haben sie die gleichen Gefühle, dass sie alle eines Tages sterben werden. [Mara Sartore: Repetition: Ein Interview mit Ken Matsubara]
Matsubaras künstlerische Forschung widmet sich Erinnerungen, die nicht nur kollektive, sondern universelle Prinzipien umfassen. „Meine Arbeiten versuchen, die Möglichkeit zu erforschen, Erinnerungen zu verschmelzen, die sich tief im Bewusstsein befinden. Diese Werke bestehen aus Erinnerungsbildern, die Archetypen enthalten, die Erinnerungen verkörpern.“ Er betont, dass „Erinnerungen… genetisch unserer DNA innewohnen, die seit der Antike ein enormes Wissen aus der Vergangenheit enthält. Darüber hinaus teilen sie ein kollektives Gedächtnis, das über das individuelle Selbst hinausgeht und sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart durchdringt. Wenn wir uns daran erinnern und sie teilen können, dann glaube ich, dass es ein Potenzial für unsere Zukunft gibt, über die Grenzen kultureller, historischer und sozialer Vorstellungen von Individualität hinauszuwachsen“.
[Statements der Website der Künstler, 15. März 2018. Text: Bettina Pelz]