Die konkrete Kunst der Amerikanerin Christine Sciulli sind Kompositionen, die mit den Geometrien des Lichts spielen. Ihre Anziehungskraft und Poetik verdanken sie Sciullis ausgeprägtem Gespür für komplexe Arrangements. Zurzeit arbeitet sie an einer Series von großen, ortspezifischen Interventionen. Sie zeigen animierte weiße Kreise, die auf unregelmäßige Oberflächen projiziert werden. Es generieren eine Interaktion, die es den weißen Linien erlaubt zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu mäandern. So entsteht eine ungewöhnlich bezaubernde Seherfahrung.
„Ich habe mich schon immer für Licht interessiert“, sagt Sciulli. Als Kind spielte sie am Esstisch mit den Lichtreflexionen des Bestecks und freute sich daran, wie sie das Licht durch den Raum lenken konnte. Heute, als ausgebildete Lichttechnikerin und bildende Künstlerin, kennt sie die Eigenschaften des Lichts und die Wechselwirkung mit der menschlichen Wahrnehmung. In ihren Arbeiten werden Volumen und Bewegung, Form und Farbe durch das Zusammenspiel von projiziertem Licht, Zeit, Raum und Material bestimmt. Ihre Arbeiten illustrieren wie Licht unsichtbar wird, wenn es nicht auf etwas tritt, das es reflektiert. Die leuchtende Linie ist zum Werkzeug ihrer künstlerischen Auseinandersetzung und ihrer künstlerischen Artikulation geworden.
In der Kunstgeschichte ist die Linie ein grundlegendes Mittel des visuellen Ausdrucks, und Sciulli interessiert die Linie als liminaler Raum. Mit Projektionen von Linien auf Gräser und Sträucher untersuchte sie das Bildverhalten von zweidimensionalen Linien auf dreidimensionalen Projektionsflächen. Umgeben von Dunkelheit erzeugt das Auftauchen und Verschwinden der sich bewegenden weißen Linien eine visuelle Spannung. 1926 schrieb Paul Klee über eine Zeichnung: „Sichtbar machen.“ Er beschrieb die Linie als Transit zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren, als „Medium zwischen Erde und Kosmos“. Bei Sciulli wird die Linie zur leuchtenden Linie mit Bewegung im Raum, Zeitfluss und Wahrnehmungsreaktion als inhärenten Qualitäten.
In ihren aktuellen Arbeiten konzentriert sie sich auf kreisförmige Linien. „Kreise schienen folgerichtig der nächste Schritt, nach dem ich wie besessen mit geraden Linie gearbeitet hatte. Als ich sah wie sie sie durch die chaotische Oberfläche bewegen, war ich von der Einfachheit der Kreisform verzaubert und davon wie aktiv sich ein Kreis anfühlen kann“. Ein Kreis ist eine abstrakte geometrische Figur, der eine Ebene in zwei Teile teilt, eine innere und eine äußere. Als Struktur korrespondiert es mit dem Ein/Aus des Lichts.
Die Arbeit mit abstrakten Geometrien hat in der Kunst eine lange Tradition. Die Wurzeln der geometrischen Abstraktion liegen in der avantgardistischen Kunst der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Es war eine Kunstform, die sich Klarheit, Struktur und Logik widmete. Ihr Formenvokabular konzentrierte sich auf geometrische Formen, und Kompositionen waren mathematisch durchdacht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es Franticek Kupka, Robert Delaunay und Sonia Delaunay-Terk in Frankreich, der Suprematismus entwickelte sich um den russischen Kasimir Malewitsch, die De Stijl-Bewegung konstituierte sich in Holland mit Piet Mondrian und Theo van Doesburg und ab den 1920er Jahren setzte sich am Bauhaus die geometrisch-abstrakte Malerei mit Wassily Kandinsky und Georg Muche durch. Stilmerkmale der geometrischen Abstraktion sind die Fokussierung auf Linien und Farbflächen, auf geometrische Grundformen und deren strukturelle Gliederung. Die gleichen formalen Merkmale lassen sich auch auf die Konkrete Kunst anwenden, die jedoch bildnerisches Arbeiten nicht mehr als eine Abstraktion von einer anderen Realität verstand, sondern eine eigene künstlerische Realität schaffte. So lassen sich auch die Arbeiten von Sciulli lesen: Sie basieren auf den Geometrien des Lichts und generieren eine eigene Realität. Das komplexe Zusammenspiel von Licht und Zeit, Bewegung und Raum, Linie und Form, Material und Wahrnehmung sind ihre Baustoffe, die mit der Dynamik von visuellen Strukturen und Rhythmen, von Codierung und Programmierung, von Information und Wahrnehmung verwoben werden. „Was mich zum Kreis hinzieht, ist die gewölbte Lichtlinie, die sich bis zu ihrem Ausgangspunkt zurückzieht und wie diese Kreislinie über das dreidimensionale Medium des Netzes ausstrahlt.“
Nachdem sie seit 2010 mit natürlichen Umgebungen und deren Wechselwirkung mit geometrischen Projektionen experimentiert hatte, begann sie 2013 mit geometrischen Projektionen auf unregelmäßigen textilen Flächen zu arbeiten. Beide Szenarien erlauben es ihr, das Zusammenspiel von Licht und Material, Form und Oberfläche, Transparenz und Reflexion zu steuern. „Crawl“ war die erste Videoprojektion einer einzelnen bewegten Linie auf gekrümmten Flächen aus einem textilen Gewebe. Was als eine zusammenhängende Linie begann, verwandelte sich in eine dreidimensionale Bildstruktur.
Wie der Kreis korrespondiert auch die Wahl eines Netzgewebes mit dem Ein- und Ausschalten des Lichts. Faden und Nicht-Faden, die Struktur des Materials verbindet materielle und immaterielle Teile. Das durchströmende Licht wird dem Fadenmaterial reflektiert und bewegt sich unsichtbar im Dazwischen. Sciulli entwirft textile Skulpturen, die von Dunkelheit umgeben sind. Nur ihre geometrischen Projektionen ergründen, ob und wo Material vorhanden ist oder nicht. „Während das Licht der Kreise die Kette und den Schuss entführt, scheint es sich mit jedem Faden, der einige seiner Photonen fängt, zu lösen, nur um festzustellen, dass es sich weit und breit ausdehnt.“
[Alle Zitate: Christine Sciulli. Text: Bettina Pelz]